Johann Sebastian Bach: Sinfonia D-Dur BWV 1045
Violinkonzert E-Dur BWV 1042
Suite Nr. 3 D-Dur BWV 1068

SONNTAG, 30.10.22 || 17:00 UHR || ST. URSULA

Barockensemble des Neuen Rheinischen Kammerorchesters
Ariadne Daskalakis, Solo-Violine und Leitung

Die majestätische Sinfonia BWV 1045 zum Auftakt des Konzerts könnte glatt als Violinkonzert durchgehen. Möglicherweise war das Werk auch als solches gedacht, vielleicht aber auch als besonders virtuose Einleitung zu einer heute unbekannten Kantate. Virtuos bleibt es im Violinkonzert E-Dur mit einer atemberaubenden Solopartie und aufregenden formalen Experimenten im Verlauf der Sätze. Am Ende schließt sich der Kreis mit der fröhlich-festlichen Stimmung einer Orchestersuite von Johann Sebastian Bach.

Virtuosität „Shameless virtuosity“?

Ein prominenter Violinist verwendete diese Formulierung mit Bezug auf den exorbitant schwierigen Violinpart des Konzertsatzes BWV 1045. Diesen werden Sie im heutigen Konzert –gespielt von Ariadne Daskalakis –in vollendeter Perfektion hören! Zweifellos enthält der Part ein Moment fingerbrecherischer Ostentation, das wir aus keinem anderen Bach’schen Werk kennen. Der nicht mehr ganz junge Meister –BWV 1045 dürfte zwischen 1743 und 1746 entstanden sein –scheint ein geradezu diebisches Vergnügen darin gefunden zu haben, der Violine nicht endenwollende Kettenvon Doppelgriffen und arpeggiertenAkkordenauf den Leib zu schreiben. Überraschenderweise handelt es sich indes gar nicht um ein originäres Konzertwerk. Die Originalpartitur steht unter der Überschrift: „Concerto, a 4 Voci. 3 Trombe, Tamburi, 2 Hautb, Violino Con[certato], 2 Violini, Viola e Cont[inuo]“. DerTitel kennzeichnet eindeutig ein Vokalwerkund weist dem brillanten, großbesetzten „Konzertsatz“ ebenso eindeutig den Platz als Eingangsstück einer Kantate zu. Diese Kantate ist indes verschollen, so dass leider keine Verbindung hergestellt zwischen deren möglichem Inhalt und den ausufernden Sechzehntel-und Zweiunddreißigstel-Kaskaden des Instrumentalsatzes.Erleben wir das ungewöhnliche Stück als Ausdruckfestlicher Gestimmtheitund unbändiger Freude!

Bach’sche Italianità

Gemessen daran, dass Bach sich über viele Jahre von Amts wegen mit Instrumentalmusik beschäftigt hat, ist der überlieferte Werkbestand schmal. Die Musikforschung vermutet, dass große Teile von Bachs Instrumentalschaffen verloren gingen. Einige mutmaßlich während seiner Köthener Zeit (1717 –1723) entstandene Werke sind überdies nicht in Originalgestalt erhalten, sondern in umgearbeiteter Form:Bach adaptierte diverse Köthener Konzerte späterfür das von ihm geleitete Leipziger Collegium musicum. Zu diesen zählt auch das E-Dur-Violinkonzert BWV 1042. Das Autograph der Originalversion ist verschollen, von Bachs eigener Handkennen wir das Werk lediglich in seiner Leipziger Fassung als Cembalokonzert BWV 1054. Allerdings existieren diverse Abschriften der Violinversion, deren älteste aus der Zeit um 1760 stammt. Das uns wohlbekannte –und seit der Bach-Renaissance des 19. Jahrhunderts sehr beliebte–E-Dur-Violinkonzert ist also nicht Ergebnis einer neuzeitlichen Rekonstruktion, sondern im (Fast-) Originalzustand zu uns gelangt.

Oft ist im Zusammenhang mit Bachs Konzerten vom Vorbildcharakter des Vivaldi-Modells die Rede. Ohne Zweifel hat sichBach schon in seinerWeimarer Zeit(1708 –1717) intensiv mit Vivaldis „L’estro armonico“ beschäftigt. Ein Exemplar dieses 1713 erstveröffentlichten Werks –das das Genre wenn nicht revolutionierte, so doch entscheidend prägte –hatte Bachs Dienstherr mutmaßlich aus Amsterdam mit nach Thüringen gebracht. Doch kann von einem „Modell“ wirklich die Rede sein? Vivaldi selbst hielt sich auffällig oft nicht an die Regeln derangeblich von ihm generierten Form, und umso häufiger weichen Bachs Konzerte von den vermeintlich strikten Normen ab. Der Bach-Forscher und Cembalist Siegbert Rampe formuliert: „Bach kann sich mit ihr [i.e. Vivaldis Konzertform] nicht auseinandergesetzt haben, weil es sie nicht gab.“Zu Bachs Auseinandersetzung mit dem italienischen Stil merkt sein Biograph Forkel an: „Er studirte die Führung der Gedanken, das Verhältnis derselben untereinander, die Anwechselungen der Modulation und mancherlei andere Dinge mehr. So vorbereitet bedurfte es nun nur Fleiss und ununterbrochene Uebung, um immer weiter, und endlich auf einen Punkt zu kommen, auf welchem er sich nicht nur ein Kunst-Ideal erschaffen, sondern auch hoffen konnte, es mit der Zeit zu erreichen.

Bach übernahm zwar Anregungen des Italieners, doch zeigt sich etwa im Kopfsatz des E-Dur-Violinkonzerts eine enge Verzahnung der einzelnen Abschnitte, wie wir sie bei Vivaldi kaum je antreffen. Die Ritornelle sind nicht immer klar abgegrenzt gegen die Solopassagen und dienen nichtnur der Erreichung bestimmter Tonart-Stationen. Überdies ist dieübergreifende Form des Satzes die einer Da Capo-Arie. Bachisches Raffinement zeigt sich zudem in der „Vertikalisierung“ des thematischen Materials: Vom ersten Eintritt derSolovioline an erklingen immer wieder Teile der Eingangsmotivik zugleich, übereinander geschichtet. Aus melodischenFortspinnungen werden einander kontrapunktierende Stimmen. Das anschließende Adagio mutet in seiner Anlage durchaus vivaldesk an: Über einer ostinaten Bassfigurund unterstützt durch akkordisch geführten StreicherentfaltetdieSolovioline eine ausdrucksvolle Gesangslinie. Indes tritt die Bassfigur ungeachtet ihrerstatischen Struktur als expressive Gegenstimme auf, zudem enthält siereiches Modulations-Potential, von dem Bach intensiven Gebrauch macht. Bachs E-Dur-Violinkonzert endet mit einem der formal schlichtesten Sätze innerhalb seines Konzertschaffens: einem Rondo, das ausschließlich aus sechzehntaktigen Refrain-und Couplet-Einheiten gebildet ist.

Der französische Geiger Alexandre Boucher (1770 –1861) scheint der erste gewesen zu sein, der im Jahr 1821 Violinkonzerte Bachs öffentlich vortrug, und noch 1840 bezeichnete die Allgemeine Musikalische Zeitung eine Aufführung der Werke als „historisches Kuriosum“.

Eine „deutsche Erfindung“

Ohne die Gränzen der Bescheidenheit zu überschreiten“ – um Quantz’ berühmte Formulierung aufzugreifen –dürfen wir die Orchestersuite als deutsche Erfindung betrachten. 1664 veröffentlichte Johann Caspar Horn in seinem „Parergon Musicum“ eine Komposition, die sich aus einer Ouvertüre nach französischem Gusto und anschließenden Tanzsätzen zusammensetzt. Die weitere Gattungsgeschichte nennt Namen wie Kusser, Erlebach und schließlich Telemann, dessen Suiten wiederum viele Zeitgenossen inspiriert haben: Zelenka, Graupner, Fasch, gewiss auchBach. Auf Telemann scheint auch die Identifizierung der Begriffe Ouvertüre und Suite zurückzugehen, da der mehrteilige Ouvertüren-Satz in der Regel der gewichtigste der ganzen Suite ist.

Kammermusik?

Die Besetzung von Bachs Ouverture D-Dur BWV 1068 weist neben Streichern und Basso continuo zwei Oboen, drei Trompeten und Pauke auf. Von den Möglichkeiten obligater Stimmführung der „Sonderinstrumente“ macht Bach jedoch wenig Gebrauch: Die Oboen gewinnen lediglich im Mittelteil der Ouvertüre eine gewisse Eigenständigkeit und sind ansonsten an die Violinen gebunden. Die Trompeten werden zumeist als Harmoniestimmen eingesetzt. Bestrebungen Telemanns und anderer, Elemente der französischen Tanzfolge mit jenen des italienischen Concerto zu verbinden –die Suite also zum Tummelplatz des „Vermischten Geschmacks“ zu machen –, haben hier keine nennenswerten Spuren hinterlassen. Andererseits trägt die 1.-Violinstimme insbesondere im Ouvertüren-Allegro solistische Züge, ohne deswegen als „Violino concertato“ ausgewiesen zu sein. Wurde das Werk ursprünglich für kammermusikalische Besetzung geschrieben?

In ihrer heutigen Gestalt ist die 3. Suite Resultat einer Umarbeitung. Offenbar hat Bach die Trompeten-und Paukenstimmen nachträglich hinzukomponiert, möglicherweise sind auch die Oboenparts Zutaten zu einem Werk, das in einer reinen Streicherfassung auf Bachs Köthener Jahre (1717-1723) zurückdatierbar sein könnte. Die Entstehungsgeschichte der vier Orchestersuiten Bachs birgt nach wie vor Geheimnisse. Bemerkenswert wenig hält sich Bach in seinen „Orchester“-Suiten an das tradierte französische Modell. Wir finden beispielsweise nur eine Gigue –sie bildet das Finale der 3. Suite –, hingegen allerorten Bourréen und Gavotten und daneben einzelne Sätze, die völlig aus dem Rahmen fallen, wie etwa die berühmte Air: eines der populärsten Instrumentalstücke Bachs überhaupt, zugleich ein Musterbeispiel für den obligaten vierstimmigen Satz.

Oder doch Orchestermusik?

Hat Bach überhaupt Orchestermusik komponiert? Anders alsim späteren 18. Jahrhundert existierte zur Bach-Zeit noch keine eigenständige Kategorie chorisch besetzter Instrumentalmusik. Größer besetzte Werke unterschieden sich zwar strukturell etwa von einer Sonate, doch ob eine Suite oder ein Concerto chorisch oder solistisch ausgeführt wurde, spielte keine entscheidende Rolle. Die Tatsache, dass Bach meist Ensembles von überschaubarer Größe zur Verfügung standen–die 17-köpfige Köthener Kapelle war ein für damalige Verhältnisse großes Orchester –, muss daher nicht als historische Ungerechtigkeit betrachtet werden. Ähnlich wie im Fall der vielstrapazierten Floskel „Wenn Bach den modernen Flügel gekannt hätte“macht es wenig Sinn, diesem inseiner Epoche verwurzelten Musiker posthum romantisierende Sehnsüchte nachzusagen.

© Gerhard Anders